* 10 *
Genau acht Minuten und zwanzig Sekunden, nachdem Sally der Muriel am Kai nachgewinkt hatte, traf der Jäger mit seiner Meute auf der Müllkippe Schönblick ein. Sally hatte jede dieser fünfhundert Sekunden mit einer wachsenden Angst im Bauch durchlitten. Und was hatte sie getan?
Sie hatte nach ihrer Rückkehr kein Wort gesprochen, doch etwas in ihrem Verhalten hatte die meisten Gäste veranlasst, rasch ihr Bier auszutrinken, die letzten Reste Gerstenkuchen hinunterzuschlingen und zügig in der Nacht zu verschwinden. Nur die Nordhändler waren noch da. Sie saßen vor ihrem zweiten Krug Springo Spezial und unterhielten sich leise in ihrem trauervollen Singsang. Selbst der Spüljunge war weg.
Sally hatte einen trockenen Mund, und ihre Hände zitterten. Sie kämpfte gegen das überwältigende Verlangen an, einfach davonzulaufen. Beruhige dich, Mädchen, sagte sie sich. Da musst du durch. Du weißt von nichts. Der Jäger hat keinen Grund, dir zu misstrauen. Aber wenn du jetzt wegläufst, weiß er, dass du in die Sache verwickelt bist. Und er wird dich finden. Er findet jeden. Bleib, wo du bist, und verlier nicht die Nerven.
Der Sekundenzeiger der großen Cafeuhr tickte weiter.
Tick ... tick ... tick ...
Vierhundertundachtundneunzig Sekunden ... Vierhundertundneunundneunzig Sekunden ... Fünfhundert.
Der gleißende Strahl eines Suchscheinwerfers strich über die Kuppe des Müllbergs.
Sally rannte zum Fenster und sah mit pochendem Herzen hinaus. Dunkle Gestalten, deren Umrisse sich gegen das Scheinwerferlicht abhoben, schwärmten über den Hügel. Der Jäger hatte seine Meute mitgebracht. Wie Marcia befürchtet hatte.
Sally beobachtete die Gestalten und versuchte zu erkennen, was sie taten. Sie hatten sich um die Rattentür versammelt, die Marcia mit einem Schließ- und Schweißzauber blockiert hatte. Zu Sallys Erleichterung hatten sie offenbar keine Eile, ja, es hatte ganz den Anschein, als ob sie sich köstlich amüsierten. Vereinzelte Rufe wehten zum Cafe herüber. Sally spitzte die Ohren. Was sie verstand, ließ sie erschauern.
»... Zauberergesindel ...«
»... die Ratten sitzen hinter der Rattentür fest...«
»... lauft nicht weg, ha-ha. Wir kommen euch holen ...«
Sally sah, wie die Gestalten an der Rattentür immer aufgeregter wurden, da die Tür all ihren Versuchen, sie zu öffnen, widerstand. Etwas abseits wartete eine einsame Gestalt und sah zu. Der Jäger, wie Sally richtig vermutete.
Plötzlich verlor der Jäger die Geduld. Er stapfte zu der Rattentür, entriss einem seiner Leute eine Axt und hieb wütend auf die Tür ein. Lautes Scheppern drang zum Cafe herunter. Schließlich wurde das verbogene Gitter der Rattentür auf die Seite geworfen, und einer aus der Meute musste in die Röhre kriechen und sich durch den Abfall graben. Ein Scheinwerfer wurde direkt auf den Ausgang gerichtet, und die Meute versammelte sich darum herum. Sally sah im grellen Licht ihre Pistolen funkeln. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Bald mussten sie entdecken, dass die Beute entwischt war.
Es dauerte nicht lange.
Eine schmutzige Gestalt tauchte aus dem Müllschlucker auf. Der Jäger war offensichtlich außer sich. Er packte den Mann, schüttelte ihn heftig und schleuderte ihn zur Seite, sodass er den Müllberg herunterpurzelte. Dann kauerte er sich nieder und spähte ungläubig in den leeren Müllschlucker. Mit einem Wink befahl er dem Kleinsten aus der Meute, in die Röhre zu kriechen. Der Betreffende zauderte, wurde aber hineingestoßen, und zwei Meutenwächter postierten sich mit gezückten Pistolen am Eingang.
Der Jäger schritt langsam zum Rand der Müllkippe. Er musste seine Fassung wiedergewinnen, nachdem er festgestellt hatte, dass die Beute entwischt war. In sicherem Abstand folgte ihm die kleine Gestalt eines Jungen.
Der Junge hatte das grüne Alltagsgewand eines Zaubererlehrlings an, doch im Unterschied zu jedem anderen Lehrling trug er um die Hüfte eine rote Schärpe, die drei schwarze Sterne schmückten. Die Sterne DomDaniels.
Doch in diesem Augenblick achtete der Jäger nicht auf den Lehrling DomDaniels. Er stand reglos da, ein kleiner, kräftig gebauter Mann mit dem kurz geschorenen Haar eines Gardisten. Sein Gesicht war braun und zerfurcht nach all den Jahren, die er im Freien damit zugebracht hatte, menschliches Wild zu jagen und zur Strecke zu bringen. Er trug die übliche Jägerkleidung: eine dunkelgrüne Uniform, einen Kurzmantel und dicke braune Lederstiefel. Um seine Taille schlang sich ein breiter Ledergürtel, an dem ein Messer mit Scheide und ein Kugelbeutel hingen.
Der Jäger lächelte grimmig. Sein Mund dehnte sich zu einer schmalen Linie, deren Enden entschlossen nach unten strebten, und die blassblauen Augen verengten sich zu wachsamen Schlitzen. So musste eine Jagd sein! Ausgezeichnet, nichts liebte er mehr als die Jagd. Jahrelang hatte er sich in der Meute emporgearbeitet und schließlich sein Ziel erreicht. Er war Jäger, der beste der Meute, und auf einen Augenblick wie diesen hatte er gewartet. Hier stand er und jagte nicht nur die Außergewöhnliche Zauberin, sondern auch die Prinzessin, das Königsbalg. Er freute sich auf eine unvergessliche Nacht: Spur aufnehmen, verfolgen, jagen, in die Enge treiben und töten. Kein Problem, dachte er, grinste noch breiter und entblößte im kalten Mondlicht seine spitzen kleinen Zähne.
Er richtete seine Gedanken auf die Jagd. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Vögel ausgeflogen waren, aber als gewissenhafter Jäger durfte er keine Möglichkeit außer Acht lassen. Deshalb hatte er einen Mann in den Schacht geschickt und ihm befohlen, alle Ausgänge bis zum Zaubererturm zu überprüfen. Dass dies wahrscheinlich unmöglich war, störte ihn nicht. Ein Meutenwächter war der Niedrigste der Niedrigen, ein Entbehrlicher, der seine Pflicht tun musste, und wenn es ihn das Leben kostete. Der Jäger war früher selbst Entbehrlicher gewesen, aber nicht lange – dafür hatte er gesorgt. Und jetzt, so dachte er mit einem Schauder der Erregung, jetzt musste er die Spur finden.
Die Müllkippe lieferte jedoch wenig Hinweise, selbst für einen erfahrenen Spurenleser wie ihn. Die Wärme, die bei der Zersetzung der Abfälle entstand, hatte den Schnee zum Schmelzen gebracht, und da unablässig Ratten und Möwen im Müll wühlten, waren bereits alle Spuren verwischt. Ausgezeichnet, dachte der Jäger. Wenn keine Spur da war, musste er das Gelände erkunden.
Von seinem Aussichtspunkt auf dem Müllberg beobachtete er mit zusammengekniffenen Augen die mondhelle Umgebung. Hinter ihm ragten die dunklen Mauern der Burg empor, deren Zinnen sich scharf gegen den kalten hellen Sternenhimmel absetzten. Vor ihm, am anderen Flussufer, wellte sich das fruchtbare Ackerland, und am fernen Horizont machte er den gezackten Kamm der Grenzberge aus. Er betrachtete die verschneite Landschaft lange und gründlich, doch er entdeckte nichts, was für ihn von Interesse war. Dann richtete er sein Augenmerk auf die unmittelbare Umgebung unter ihm. Sein Blick folgte dem Lauf des Flusses, der links von ihm um die Biegung hervorkam und dann mit starker Strömung nach rechts floss, vorbei an dem schwimmenden Cafe, das sich sanft auf den Wellen wiegte, und vorbei an dem kleinen Kai, an dem vertäute Boote lagen, bis er etwas weiter stromabwärts hinter dem Rabenstein, einer zerklüfteten, das Wasser überragenden Felsnase verschwand.
Der Jäger lauschte auf Geräusche, die vom Wasser aufstiegen, doch er hörte nur die Stille, die sich einstellt, wenn das Land unter einer Schneedecke versinkt. Er suchte das Wasser nach Hinweisen ab – vielleicht ein Schatten unter dem Ufer, ein aufgescheuchter Vogel, ein verräterisches Kräuseln der Oberfläche –, doch er konnte nichts entdecken. Gar nichts. Alles war seltsam still und starr. Der dunkle Fluss wand sich lautlos durch die Schneelandschaft, die im Licht des Vollmondes glitzerte. Er war eine ideale Nacht zum Jagen, dachte der Jäger.
Er stand reglos da und wartete gespannt darauf, dass ihm etwas ins Auge fiel.
Beobachten und warten ...
Dann fiel ihm etwas ins Auge. Ein weißes Gesicht hinter dem Fenster des Cafes. Ein angsterfülltes Gesicht, ein Gesicht, das etwas wusste. Der Jäger lächelte. Er hatte einen Hinweis. Er war ihnen wieder auf der Spur.